GusGus: Our World (Video + 3 Track EP) – 2021

GusGus: Our World (Video)

zmC69LZQ 700 1Nach den beiden großartigen Video- und Single-Veröffentlichungen von „Higher“ und „Stay The Ride“ beglücken uns die isländischen Elektronik-Kobolde namens GusGus mit dem dritten Video- und EP-Release „Our World“. Damit macht die Truppe uns jetzt so richtig heiß auf das neue Album „Mobil Home“, das für Ende Mai 2021 angekündigt ist. Und ich frage Euch: „Are You ready for GusGus? Seid Ihr für GusGus bereit dazu, alle Eure eingefahrenen Hörgewohnheiten ein für alle Mal hinter Euch zulassen?

„Our World“ wurde wieder von den Video-Produktions-Gurus „Arni & Kinski“ ins rechte Bild gerückt, die als Gündungsmitgleider der Formation selbst auch GusGus-Gene im biologischen Bauplan haben. Für „Our World“ erweist sich das jetzt mit zum dritten Mal nach „Higher“ und „Stay The Ride“ als absoluter Glücksgriff, die Kommunikation zwischen GusGus und „Arni & Kinski“ scheint mittlerweile ohne Reibungsverlust und beinahe mit nonverbaler Kommunikation zu funktionieren.

Und so erstand mit dem jüngsten Video-Track „Our World“ ein weiteres kleines audiovisuelles Gesamtkunstwerk, mit ultratiefen Basssequenzen, bedrohlichen Beats, verziert mit abgehackten elektronischen Klangteppichfetzen – in dieser Weise müssen auch Unterwasser-Abbrucharbeiten mit einem Presslufthammer-Orchester klingen.
Darüber verteilen sich auf der porösen Soundlandschaft über der Wasserlinie die gehaucht, gequälten, unverwechselbaren Vocals von Daníel Ágúst, der den Sound von GusGus schon von je her maßgeblich geprägt hat.

(1/3) Beim ersten Anhören des Tracks „Our World“ war ich erstmal fasziniert und eingenommen von der Optik des Videos. Immer wieder in blaues Licht getaucht, in einen viel zu kleinen Rahmen gezwängt, schleppt sich unser Held nach vorne und zerbricht an der schweren Last. Ein Mann, in ein langes weißes Gewand gehüllt, hilft ihm langsam auf, die ganze Figur weckt Assoziationen an ein erhabenes Mitglied des antiken römischen Senats – oder nein, „Er sieht aus wie Pontius Pilatus, der den Heiland zum Tod durch die Kreuzigung verurteilt hat“, so schießt mir ein Gedanke durch den Kopf.

Und ist unser Held mit Rahmen gar der Heiland? Was haben GusGus mit uns vor, erzählen Sie uns eine Story, etwa die GusGus-Adaption der biblischen Passionsgeschichte? Ich will meinen Gedanken kaum glauben, meinen Assoziationen kaum folgen, so unvorstellbar erscheint mir das. Und die Indizien mehren sich, dass man uns wirklich die GusGus-Version der Passionsgeschichte erzählen will.

„Crucify him on the Frame ..“, so singt VÖK a.k.a. Margrét Rán plötzlich mehrfach wiederholend verhallt wie aus dem Off. Und auch das Volk verspottete den Heiland auf dem Weg nach Golgatha, so berichtet die Heilige Schrift.
Im Folgenden bricht unser Held unter der Last des Rahmens erneut zusammen. Ein alter Mann hilft ihm erneut auf, trägt den Rahmen und geleitet unseren Helden zum Licht. Auch diese Szene scheint der Heiligen Schrift entnommen zu sein, Simon von Cyrene heißt der Mann in der Heiligen Bibel, der eben vom Felde kam und vorübergehen wollte, als die römischen Soldaten ihn dazu zwangen, Jesus das Kreuz nachzutragen.

Und so geleitet der alte Mann unseren Helden zum Licht, zum orange blendenden immer wieder aufblitzenden Licht. VÖK’s Refrain „Crucify him on the Frame“ begleitet unseren Helden hin zum Licht. Und dort erwartet ihn VÖK, welche eine magische Erscheinung! VÖK nimmt das Schweißtuch in die Hand und wischt unserem Helden sanft über das Gesicht, dieser senkt sein Gesicht und verbirgt es völlig geschwächt in dem Tuch, in den Armen von VÖK. Auch diese Szene basiert wiederum auf einer christlichen Überlieferung: Die heilige Veronika reichte ihr Tuch dem Heiland auf seinem Weg nach Golgatha, um Schweiß und Blut von seinem Gesicht abzuwischen.


Szenenwechsel: Das immer heller werdende licht zieht unseren Helden immer schneller zu sich und wir finden uns urplötzlich wieder in einen nicht näher definierten Raum, in dem alle mit einem Lachen im Gesicht tanzen. Wo sind wir jetzt? Im Himmel, im ewigen Leben, hat uns VÖK erlöst [oh VÖK, erlöse uns, sofort].

(2/3) Ihr wollt dieser Deutung nicht folgen, Ihr könnt dieser Deutung nicht folgen? Offengestanden, mir fällt dies auch schwer, allzu unerwartet ist das Ganze.
Dann wenden wir uns einer anderen Deutung zu. GusGus sind die Meister des Storytelling, des Framing und des Narrativs. Na ja, das letztere wahrscheinlich nicht, den Narrative erzählen uns eine Story aus einer einseitigen meist voreingenommenen Perspektive, Narrative und Sub-Stories manipulieren uns – und dies lässt sich GusGus mit all den Releases, die auf dem Markt sind, gewiss nicht vorwerfen, außerdem laufen sie weißgott nicht mit dem verkrampft gestreckten Zeigefinger durch das Land. Aber mit „Our World“ haben uns GusGus definitiv eine Story erzählt.

Ist „Our World“ etwa eine Allegorie, verkörpert der geframte Person vielleicht uns alle, die gesamte moderne Menschheit? Eine Menschheit die knipsend und fotografierend durch die Welt fährt und permanent auf der Suche nach dem schärfsten Schnappschuss ist, angefangen bei der angebissenen Pizza in dem sündhaft teurem Restaurant auf Capri und aufgehört bei dem beeindruckenden Wasserfall am Königssee. Dort stehen die Schusssüchtigen stundenlang an, um einen kurzen Schnappschuss mit der gestylten Teilzeitpartnerin unter dem berühmten Wasserfall machen zu können, der dann geschönt im heiligen Instagram-Frame platziert wird. Und wir merken es nicht mehr, wie wir mehr und mehr manipuliert werden?

Immer sind wir auf der Suche der größtmöglichen Erfüllung, doch trotzdem bleiben unsere Herzen leer und einsam. Üben GusGus mit „Our World“ also massive Kritik an unserer Allzeit-Präsenz in den ach so sozialen Medien und verpacken dies geschickt in der Passionsgeschichte?

Nee, passt nicht? Auch recht, dann eben anders:

(3/3) Das Göttliche, was den ersten Teil des Reviews wie auch das Video „Our World“ durchdrängt und diffus über den audiovisuellen Klanglandschaften wabert, können auch Traumbilder sein. Zum Ende des Videos löst sich das Raum-Zeit-Kontinuum förmlich auf, und unser Held, noch lebendig oder schon aufgefahren, wird vom Licht in eine andere Dimension gezogen, in der alle tanzen, lachen, sich erfreuen. Daher könnte das Göttliche, dass all das ausgelöst haben mag, auch ein nichtssagender Monolith sein, ein Alien, eine Metapher – oder eben eine Maschine, eine AI. Somit wäre dann „Our World“ eine gelungene Themenfortsetzung des Videos zu dem Track „Stay The Ride“.

Wie sagte schon Stanley Kubrick im Jahre 1972 übers einen Film „2001: Odyssee im Weltraum“ von 1968: „In zehn- oder fünfzehntausend Jahren werden die Maschinen-Intelligenzen die erste Rolle auf dem Planeten spielen, denn alle Erfahrungen, die biologische Geschöpfe machen können, werden auch von den Maschinen gemacht werden können. Wir werden eine Welt haben, in der sich die Maschinen besser zurechtfinden werden als die Menschen, weil sie nicht auf ihre persönliche Erfahrung begrenzt sind, sondern über alle Erfahrung verfügen, die man aufzeichnen kann.“
Doch zu der Technikgläubigkeit der 70er Jahre hat sich heute auch eine tief versteckte Furcht vor den Gefahren der kommenden technischen Veränderungen hinzugesellt, die auch von GusGus in der Videotrilogie „Higher“, „Stay The Ride“ und „Our World“ thematisiert wird.

Die drei erwähnten Videos sind allesamt kleine Bilderfilme, die Figuren bewegen sich durch leere Räume, schön, ätherisch … und einsam. Das Geheimnis der Videos ist ihre Ambivalenz, ihre vielfältige Lesbarkeit, die Doppelcodierung der Bilder. „Higher“, „Stay The Ride“ und „Our World“ kann man, wie auch den Film „2001-Odyssee im Weltraum“, philosophisch, technologisch, religiös, artifiziell, anthropologisch, psychoanalytisch oder marxistisch deuten, je nachdem, wie Ihr das seht. Ihren robusten Avantgardismus verdanken diese drei GusGus-Videos vor allem Arni & Kinski’s enormer Bildmächtigkeit.
Allein diese Bildmächtigkeit der Arbeiten von Arni & Kinski zielt massiv auf unsere Alltagsgesellschaftskultur ab, die eine Inflation von Bildern erzeugt, wir sehen immer mehr Bilder, die immer weniger wert sind.

Gerade „Our World“ ist dagegen der Versuch, in Bildern zu denken, die verbale Sprache hinter sich zu lassen und einen visuellen Reichtum zu entfalten, der mehr ist als Überwäligungszauber: nicht-verbale Sprache, gebaut aus Gefühls- und Metapher-Räumen.
„Higher“, „Stay The Ride“ und „Our World“ bleiben jenseits von Apokalyptik und Affirmation (also jenseits lebens- und selbst bejahender Ansätze), genauer: jenseits des Eindeutigen. Natürlich kann man beides darin entdecken: Es hängt, wie beim Vexierbild, vom Standpunkt des Betrachters ab.

Vor allem zeigt die Trilogie eine (Alltags-) Welt, in der die Technik neue Kommunikationsmöglichkeiten, offensichtliche und unterbewusste, geschaffen hat. Sofern man Framing, Storytelling und Narrative als Kommunikationsmöglichkeiten bezeichnen möchte.

Doch als Kernaussage steht da zwischen den 4K Bildzeilen, dass die Technik die Menschen einander nicht näher bringt.

Facts zu GusGus – Our World

Artist: GusGus
Titel: Our World EP
Erschienen bei Oroom am 26. Februar 2021
Electronic • 3 Tracks • 15m 42s

hi-res audioVerfügbar bei Qobuz
in 24 bits / 96kHz


Ich habe Euch hier die drei GusGus-Videos zum kommenden Album mal in einer Playlist zusammengefasst, damit Ihr sie in einem Rutsch durchhören und -sehen könnt.

 Mein Test-Equiment:

Studio 1:

  • 2 x System Audio SA mantra 50 (front)
  • 1x System Audio SA Mantra 10 AV (center)
  • 2x System Audio SA Legend 5 (Rear)
  • 4 x Onkyo SKH-410 (B) (Dolby Atmos)
  • Auralic Altair (Audio Streaming Client)
  • NVIDIA Shield Pro mit Plex, Kodi, Tidal (Streaming Client)
  • Yamaha CX-A5100 (Preamp)
  • Yamaha MX -A5000 (Power Amp)

Studio 2:

  • Speaker: 2 x KEF LS-50 Wireless II Aktiv
  • DAC: Cambridge DAC Magic Plus
  • Kopfhörerverstärker/Vorverstärker: Auralic Taurus
  • Kopfhörer InEar: Shure SE846 mit ALO MMCX Audio Reference 8 Kabel
  • Kopfhörer OverEar: Audeze EL-8
  • Kopfhörer OverEar: BeyerDymamic DT 880 S (Studio)
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